Studieren mit Kind

„Ermessen kannst du vergessen – oder: klare, gesetzliche Regeln helfen allen!


Marcel Schmitt – Trägerbeauftragter der Kitas des Studierendenwerks

Mit insgesamt 55 Mitarbeiter:innen in drei Kitas in Landau, Ludwigshafen und Worms ist Marcel Schmitt Leiter der zweitgrößten Abteilung des Studierendenwerks. In acht Gruppen werden bis zu 142 Kinder betreut.

Wie war denn das Jahr 2022 Herr Schmitt?
Es ist schön, den Rückblick auf das vergangene Geschäftsjahr mit etwas Positivem beginnen zu können und darum will ich das auch tun: Ich bin absolut begeistert davon und dankbar, wie das Team unserer drei Kitas in Landau, Ludwigshafen und Worms die immer schwierigere Situation im Berufsfeld Kita meistert: engagiert, kreativ und verantwortungsvoll. Trotz widrigster Umstände entwickeln wir uns weiter und treiben beispielsweise die Digitalisierung voran. Ansonsten – das sei hier auch mal gesagt – ist es schön, dass uns der berufliche Alltag ohne Pandemie wiederhat. Was haben wir uns in den letzten Jahren danach gesehnt…

Aber damit ist der positive Part zu 2022 auch schon vorbei. Denn – ich muss ehrlich sein – das System Kita bröckelt, es knirscht und quietscht an allen Ecken und Enden und die berufliche Ermüdung ist meinem ganzen Team ganz deutlich anzumerken. Begeisterung, Durchhaltevermögen, kreatives Umgehen mit beruflichen Ausnahmesituationen und Resilienz sind leider endliche Faktoren. Und so wie es sich mir darstellt, haben wir die Belastungsgrenze vor Augen. Ich hoffe, dass dieser alltäglichen Erkenntnis, die ich im Austausch mit meinem Team erlebe, endlich wirkliche, alltagstaugliche und tragfähige politische Lösungen für das Problem folgen.

Immer öfter führe ich mit Kolleg:innen Gespräche, die nicht mehr können und wollen und die sich immer größeren Belastungen gegenübersehen, ohne berufliche Perspektiven oder Verbesserungen zu sehen. In diesen Gesprächen stelle ich fest, dass der so wichtige Beruf der Erzieher:in immer mehr an Wertschätzung und immer mehr an Perspektive einbüßt.

Die Erosion hat bereits begonnen und sie wird sich – dazu muss man kein Prophet sein – immer mehr verschlimmern, wenn nicht schnell und deutlich politisch gegengesteuert wird.

Was sind denn genau die Punkte, die ihnen Schwierigkeiten machen?
Ein Beispiel: Sie haben mehrere Krankheitsfälle beim Kita-Personal und ein, zwei Kinder mit erhöhtem Betreuungsbedarf. Irgendwann muss dann die Leitung der Kita nach eigenem Ermessen entscheiden, wann die Voraussetzungen für den reibungslosen Betrieb nicht mehr zu gewährleisten ist und muss die Kita-Gruppe oder im schlimmsten Fall die ganze Kita schließen. Bei kleinen Kitas kann das beim gegenwärtigen Personalschlüssel recht schnell der Fall sein. Der wohl wichtigste Punkt in diesem Zusammenhang ist der unangemessene Personalschlüssel. Der Schlüssel ist viel zu niedrig bemessen und bezieht nicht ausreichend Verfügungszeiten des Personals, Personalausfall durch Urlaub und/oder Krankheit und Leitungsaufgaben mit ein.

Die Politik zieht sich hier aus der Verantwortung, denn es gibt keinen gesetzlich festgelegten Fachkraft-Kind-Schlüssel, in dem geregelt ist, wie viele Fachkräfte anwesend sein müssen, um eine Gruppe oder eine Kita zu führen. Im Grunde kann man eine große Kita mit einer Fachkraft und sonst nur unexaminiertem Personal nach eigenem Ermessen betreiben. Das Dumme ist nur: Wenn was schiefgeht, trägt die Schuld das Kita-Personal. Wenn Mitarbeiter:innen ohne politischen Rückhalt über die Tragbarkeit von Betreuungssituationen entscheiden müssen, rate ich meinen Kolleg:innen lieber zur Vorsicht als zur Selbstüberschätzung. Empfehlungen des Landes – die dann auch bei Nachfrage wieder zurückgezogen werden – reichen einfach nicht mehr. Wir brauchen endlich gesetzlich festgelegte und niedergeschriebene Regelungen.

Was stört Sie dabei am meisten?
Ganz besonders ärgert mich, dass immer mehr der Eindruck entsteht, dass das System Kita betriebswirtschaftlichen Dimensionen gehorchen muss. Aber Kinder sind keine Produkte oder Waren, sondern Individuen. In dem System Kita ist zu wenig Geld, zu wenig beruflicher Anreiz und – da will ich ehrlich sein – auch zu wenig Wertschätzung. Und wenn die betriebswirtschaftliche Brille wirklich das Non-plus-Ultra sein soll, dann sollte man sie endlich richtig herum aufsetzen. Offensichtlich wurde auf politischer Seite immer noch nicht verstanden, dass jeder Euro mehr, der in die frühkindliche Bildung geht, später sehr viel Geld einspart. Die Gleichung funktioniert also umgekehrt wie gegenwärtig im beruflichen Alltag gelebt: Mehr Geld in die Kitas und in die Professionalisierung des Teams ist eine klare, offensichtliche Sparmaßnahme. Aber dann bitte auch Professionalisierung mit finanziellen Anreizen, nicht über den großen Idealismus unserer Belegschaft.

Darüber hinaus wird immer öfter erwartet, dass Erzieher:innen jetzt auch Kommunikationsprofis sein müssen, die betroffenen Eltern z.B. Schließungen erklären. Dabei sind die Regularien so verwirrend und dehnbar aufgestellt, dass das professionelle Ermessen der Einrichtung auf die Eltern – zu Recht – oft beliebig wirkt. Wenn man dazu beim Land nachfragt, dann ist man sich auch dort nicht einig. Wir erhalten unterschiedliche Aussagen und am liebsten (Achtung Ironie) ist uns diese: „Das müssen Sie in der Praxis entscheiden“.

Und das Thema Personal bleibt weiterhin eine große Baustelle. Für die gewünschten Anforderungen finden wir zu wenig Personal und entwickeln uns von der frühkindlichen Bildung immer mehr zur Bewahranstalt. So verschieben wir auch lösbare frühkindliche Probleme auf spätere Institutionen wie die Schule, wo sie nicht mehr oder nur schwer zu lösen sind. Eine pädagogische Katastrophe, eine wirtschaftliche Katastrophe noch dazu. So sieht meines Erachtens eine lose-lose-Situation aus.

Wie wirkt sich das auf das Team aus?
Mein Team meldet mir in Einzelgesprächen immer öfter zurück: Wir können nicht mehr! Der gestiegene Krankenstand spricht die gleiche Sprache. Die Rahmenbedingungen der Erzieher:innen-Stellen lassen keinerlei Verbesserung erwarten. Uns droht eine massive Abwanderung des Fachpersonals, ganz besonders, weil Themen wie Work-Live-Balance, Zukunftsperspektiven und Benefits für engagierte Mitarbeiter:innen bei Bewerbungsgesprächen immer wichtiger werden. Um ehrlich zu sein, fällt es mir als Träger mittlerweile ziemlich schwer, Bewerbern zu sagen, warum eine Stelle als Erzieherin attraktiv ist. Denn, das will ich hier ganz klar festhalten: Gegenwärtig fehlen hier positive Perspektiven.

Ohne mein aktuelles Kita-Team, dass Resilienz bewiesen hat und auch in Krisenzeiten immer das Maximum gegeben hat, würde die Situation wohl noch schlechter aussehen. Aber ich warne dringend davor, abzuwarten, bis die Belastungserosion zur Lawine wird. Das System Kita hat in den vergangenen Jahren nicht durchgehalten, weil die Rahmenbedingungen des Landes Rheinland-Pfalz die Besten waren, sondern weil sehr viel Engagement das über die Arbeitszeit der Kita hinaus geht geleistet wurde, um das System aufrecht zu erhalten!

Für mich sieht es so aus:
  • Immer weniger Menschen werden sich für eine Ausbildung zur Erzieher:in entscheiden, wenn die beruflichen Perspektiven so bleiben.
  • Immer mehr Kolleg:innen – die oft in Teilzeit arbeiten – werden sich für eine andere Tätigkeit entscheiden, wenn die Belastungen nicht runtergehen.
  • Immer mehr Kolleg:innen, die bereit sind, die nächste Stufe der Professionalisierung zu gehen, werden feststellen, dass ihnen das in ihrer beruflichen Vita innerhalb der Kita überhaupt nichts nutzt, auf jeden Fall nicht finanziell.
  • Die Ausfallzeiten durch Krankheit und damit auch die Schließzeiten der Kitas werden zunehmen.
Ich stelle erstaunt auch immer wieder fest, dass bei meinem Team nicht mal unbedingt mehr Geld im Vordergrund steht, sondern eigentlich eher die besseren, weniger belastenden Arbeitsbedingungen.

Eine Belastungsprobe auch für die „Erziehungspartnerschaft“ von Eltern und Kita, oder?
Definitiv. Ich kann die Eltern verstehen, auch ihre Beschwerden. Sehr gut sogar. Aber der Unmut über die Situation ist bei uns an der falschen Stelle. Trotz der schwierigen Situation ist durch gemeinsame Elternabende und Einzelgespräche in großen Teilen ein Miteinander und gegenseitige Unterstützung zwischen der Elternschaft und den Kitas entstanden.

Mit Entscheidungen nach „eigenen Ermessen“ (beispielsweise bei Schließungen durch unser Personal) geht eine zu große Verantwortung einher. Ich kann den Kita-Kolleg:innen eine gewisse Vorsicht bei der Schließung von Gruppen oder ganzen Einrichtungen daher nicht übelnehmen. Es gibt nur eine Lösung für das Problem: Es muss endlich ein verbindlicher, gesetzlich geregelter und auskömmlich gestalteter Fachkraft-Kind-Schlüssel festgelegt werden, auf den sich Einrichtungen verbindlich berufen können. Die Verantwortung an unser Personal weiterzureichen kann und darf nicht die richtige Lösung sein. Bisher gibt es auf Anfrage nur eine Empfehlung, wie mit dem Ermessen umzugehen ist. Und selbst diese wurde bei genauer Rückfrage von den Verantwortlichen beim Land zurückgenommen. Wenn Mitarbeiter:innen ohne politischen Rückhalt über die Tragbarkeit von Betreuungssituationen entscheiden müssen, rate ich meinen Kolleg:innen lieber zur Vorsicht als zur Selbstüberschätzung. Und dann ist die Kita eben zu. Das belastet natürlich die Erziehungspartnerschaft.

Ein recht schwieriges Arbeitsumfeld gegenwärtig!?
Ein sehr schönes, aber gegenwärtig auch ein sehr schwieriges, ja. Leider gehen die politischen Entscheidungen immer an der Lebens- und Arbeitsrealität des Systems Kita vorbei. Zum Beispiel:
Die Reinigung der Kitas durch Drittfirmen wird nicht mehr refinanziert. Man solle doch bitte Reinigungspersonal für die Kita anstellen. Was wie eine echte Verbesserung klingt, stellt sich im alltäglichen, beruflichen Leben als realitätsfern dar, da die Erzieher:innen Putzaufgaben übernehmen müssen, wenn das festangestellte Reinigungspersonal krank ist. Eine externe Reinigungsfirma fällt in aller Regel nicht aus und kann Personal umorganisieren im Krankheitsfall.

Dass darüber hinaus auch die Verhandlungen der freien Träger mit den Kommunen über die Refinanzierung von Kita-Plätzen gescheitert sind, macht die Sache nicht einfacher. Die Forderung nach einer Neusondierung der finanziellen Mittel für freie Träger – in Bezug auf Personal- und Sachkosten – führte zu keinem Ergebnis. So bleibt die Unsicherheit, welche sich auch auf die Unruhen im Erzieherbereich auswirkt, bestehen und wächst.

Wie sehen ihr Prognosen aus für 2023 und darüber hinaus?
Durch die Kompensation des kranken Personals steigt die Belastung auf bestehendes Personal immer weiter. Es wurde mit einer stetigen Anpassung bzw. Überarbeitung der Einsatz- und Stellenpläne entgegengewirkt. Das hat aber ebenfalls Grenzen. Die Problematik wird verschärft durch den Fachkräftemangel auf dem Arbeitsmarkt, als auch dadurch, dass im neuen Kita-Gesetz zu wenig Stellenanteile geplant sind, um Urlaub und Krankheit generell zu kompensieren.

Konkrete Wünsche?
Ja, die hätte ich und zwar:
  • Erhöhung des Personalschlüssels, orientiert an dem tatsächlichen Bedarf. Dazu muss die Leitungstätigkeit vollständig freigestellt werden, unabhängig von der Betriebsgröße.
  • Mein persönliches Ziel ist es, die vakanten Stellen erfolgreich zu besetzen, die digitale Eltern-App an den Start zu bringen und unser Facility Management stetig zu verbessern.

Ich denke, es sind auch Investitionen durch gestiegene Kinderzahlen und geänderte Betreuungszeiten notwendig und auch die Innen- und Außenräume müssen an gestiegene Kinderzahlen angepasst werden durch Mobiliar und Spielgeräte.
Auch ist von einer deutlichen Steigerung des Entgelts zum Ende des Jahres 23 die Rede, wenn der Tarifvertrag der Länder dem Tarifabschluss des TVöD folgt. Ich kann wirklich nur alle Finger kreuzen, das dem so sein wird.
Mein größter Wunsch ist aber, dass wir endlich mehr Zeit für die Kita als Bildungseinrichtung erhalten, damit die pädagogische Arbeit wieder im Mittelpunkt stehen kann und nicht das Management des Mangels.

Ihr Ansprechpartner für den Bereich
Marcel Schmitt
Leiter Abteilung Kita
Xylanderstraße 17
76829 Landau
Tel.: +49 6341 9179 190
kita@stw-vp.de
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